Medienlandschaft
Nach dem Fall des Baath-Regimes entwickelte sich binnen kürzester Zeit eine rein formal unglaublich vielfältige Medienlandschaft, die sich über Print, Fernsehen, Blogs und Radio erstreckte. MICT dokumentierte 2007 die ersten Schritte der Medienmacher in den neuen Freiraum. Nachdem Satellitenschüssel unter Saddam Hussein komplett verboten waren, stellt der Fernseher mit Satellitenausstattung nun in fast jedem irakischen Haushalt die Hauptinformationsquelle dar. Mit US-amerikanischer Finanzierung und Unterstützung gegründet, baute die Iraqi Media Network ein Mediennetzwerk mit multimedialen Plattformen, allen voran Al- Iraqiya TV. Seitdem haben sich neben den internationalen Agenturen auch einige irakische niedergelassen. IMN, welches mittlerweile von der irakischen Zentralregierung finanziert wird, bleibt jedoch die irakische Agentur mit der größten Reichweite. Iraqi News bietet wirtschafts- und sicherheitszentrierte englischsprachige Berichterstattung über den gesamten Iraq an.
Eine knappe Einführung in die Medienlandschaft bietet die europäisch finanzierte Media Landscapes. Die Vielzahl der entstandenen politischen und religiösen Akteure und zum Teil die theoretische konstitutionell gesicherte Meinungsfreiheit zeigen sich im Ansatz in der Vielfalt der angebotenen Informationskanäle und Ausdrucksformen. Mitunter fällt es schwer zu identifizieren, welche Medien, welcher Partei oder Institution näher sind. Die Einschätzungen von Media Landscape zur Affiliation der jeweiligen Printmedien, Fernsehsender und Radiostationen sind zwar von 2016 aber gemeinhin noch wertvoll.
Die Region Kurdistan stellt nicht nur eine parallele Medienlandschaft dar, weil sie eine kurdischsprachige Zielgruppe addressiert und effektiv seit 1991 politische Unabhängigkeit gegenüber der Zentralregierung genießt. Die de-facto Zweiteilung des kurdisch- regierten Provinzen zwischen KDP und PUK trug auch inner-kurdisch zur Bildung mehrere Medien-Sphären. Rudaw und Kurdistan24 bieten solide, mehrsprachige Berichterstattung, auch auf Englisch. BBC nahm 2014 für die Region Kurdistan eine Einschätzung der Parteinähe der jeweiligen Medien-Outlets vor, die bis heute bestand hat.
Trotz der theoretischen und konstitutionell garantierten Freiheitsrechte bewertet die UNESCO den Irak als einen der gefährlichsten Einsatzorte für Journalistinnen und Journalisten. International Media Support kritisiert in einem aktuellen Statement den mangelnden Schutz für Journalistinnen und Journalisten und das aggressive Vorgehen der Regierung gegen Medien-Aktivisten während der Berichterstattung aus den Protesten 2019. Auch in 2020 gingen von den Sicherheitsbehörden, Milizen und Unbekannten viele Gefahren für Journalisten aus. Journalisten wurden während der Berichterstattung über die Verbreitung des Corona-Virus und den Umgang der Behörden damit bedrängt, gehindert, suspendiert oder festgenommen. Der Irak rutschte in der Rangliste der Pressefreiheit 2020 auf Position 162 von 180.
Neue Trends und Impulse für Wirtschaft und Gesellschaft kommen aus den Jugendszenen der kurdisch-irakischen Städte, wie die Reportage «The youth bringing social change to Iraqi Kurdistan» von Al-Jazeera English; Engl.; 2:27; zeigt.
Seit dem Fall des Regimes findet die Jugendkultur im Irak immer neue Ausdrucksformen, die sie zum Teil öffentlich austrägt, zum Teil aber in geschützten Räumen präsentiert. Besonders in Regionen, die zurzeit einen rasanten Übergang von der Tradition zur Moderne erleben – wie der boomende kurdisch regierte Norden – werden Freiräume neu verhandelt. Von Heavy Metal bis hochpolitischem Rap kommen die Impulse für die Jugendszene nicht nur aus den Kellern und privaten Studios der Großstädte des Iraks sondern auch aus den Nachbarländern sowie den USA.
Konservative Kräfte artikulieren ihrerseits, dass im Irak kein Platz für Ausdrucksformen sei, die aus ihrer Sicht westlich, dekadent sei. Einen kleinen Lichtblick markiert die wiederauflebende Einladung zur Internationalen Buchmesse in Bagdad seit der Verdrängung des IS. Zusammen mit der Literaturwerkstatt stellt die Buchmesse einen weiteren Schritt in Richtung geistigen Wiederaufbaus des Iraks dar.
Eine sehr persönliche und poetische Sichtweise irakischer Geschichte präsentiert der französisch- irakische Reporter Feurat Alani in dieser grafisch anspruchsvollen Serie von Arte: «Fremde Heimat Irak (1/20): Aprikoseneis»; Arte; Dt.; 2:44.
Bildung
Ehemals als regionaler Leuchtturm der Alphabetisierung und Akademisierung gefeiert, verzeichnet der Irak seit einigen Jahren eine steigende Analphabetenquote. Die UNESCO schätzt, dass ca 22% der Erwachsenen nie zur Schule gegangen sind. Der Trend setzt sich fort, indem zunächst mehr als 90% der Grundschulkinder eine Schule besuchen, die Anzahl der Schüler in der Altersklasse
15-17 unter die Hälfte fällt. In den letzten Jahren schien die Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung 1. Priorität gewesen zu sein. Die flächendeckende Sicherung der Grundbildung konnte nicht gewährleistet werden, sodass insgesamt von einem Rückgang der Alphabetisierung seit Kriegsende der Rede sein kann. Aufgrund der unvorhersehbaren internen Migration leidet das Bildungssystem an Überalterung und Lehrermangel.
Die irakischen Bildungseinrichtungen unterliegen grundsätzlich dem staatlichen Erziehungsministerium in Bagdad. Letzteres ist durch Direktorate in allen Provinzen des Landes vertreten. Das Bildungssystem ruht auf vier Säulen. Der Vorschule (nicht verpflichtend), der Grundschule (verpflichtend; Alter ca 6-11 Jahre), der Sekundärausbildung und der Hochschulbildung.
Die Sekundarstufe besteht aus zwei getrennten Modulen. Beide Schulmodule dauern jeweils 3 Jahre und sind die letzten Etappen vor der Hochschulbildung. Je nach Studiengang und Abschluss dauert sie zwischen 2 und 6 Jahren.
Obgleich in der Region Kurdistan der grober Aufbau des Lehrplans dem zentralirakischen ähnelt, gibt es Unterschiede. Die KRG hat ihre eigenen zum Großteil auf Kurdisch gelehrten Curricula. Auch stellt die Kurdische Autonomie autonom Lehrer ein, deren Gehälter werden jedoch theoretisch von der Zentralregierung bezahlt. Regelmäßig führt dieser Spagat zu Auseinandersetzungen zwischen Bagdad und Erbil.
Eine deutliche Benachteiligung der Mädchen im Bildungssystem konnte in den letzten Jahren nicht ausreichend abgebaut werden. Mädchen und Frauen haben immer noch einen schlechteren Zugang zu Bildung. Im Alter von 12 Jahren aufwärts sind Mädchen doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Jungen. Auf dem Land fällt die Einschulungsrate unter Mädchen (77%) weit niedriger aus als die unter Jungen (90%). Je höher die Bildungsstufe, desto weniger Mädchen sind vertreten. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für die Mädchen ab oder ziehen eine «frühe Ehe» für sie vor, so eine Cluster-Umfrage der UN zur Lage von Kind und Frau.
Zusätzlich belastet wurde das Bildungssystem im Irak durch die Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staates und dem anschließenden Krieg gegen den IS. Obgleich die Rückkehr vieler IS- Vertriebenen begonnen hat, kämpft der Irak mit einem aktuellen UNESCO-Programm um die Sicherung des Zugangs zur Schulbildung an sich und versucht mit Bildung gegen eine religiöse Fanatisierung vorzugehen.
In der Region Kurdistan entscheidet ein eigenes, der KRG unterstelltes Ministerium, über die Bildung. Im Aufbau ähnelt das Schulsystem der Region Kurdistan dem des restlichen Irak. Curriculum, Auswahl und Ausbildung der Lehrer sowie Didaktik unterscheiden sich jedoch stark. Da die
nördlichen Provinzen eine höhere Sicherheit genießen, gelang der Aufbau dieses Sektors schneller. Die autonome Region konnte ebenfalls aufgrund der besseren Sicherheitslage viel stärker von internationalen Förderprogrammen des Bildungssystems profitieren. Trotz der vergleichsweise besseren Lage im Norden klagen die Lehrerverbände dort über ähnliche Probleme wie im restlichen Irak: Lehrermangel bei Mehrbelastung durch aufgenommene IDPs und Flüchtlingen, schrumpfende Löhne und Sicherung, mangelnde Weiterbildungsmöglichkeiten.
Neben den staatlichen Schulen gibt es immer mehr private, meist mit ausländischer Beteiligung aufgebaute Schulen. Im Grunde wächst der private Bildungssektor schneller als der staatliche. Mit dem leistungsstärkeren und stärker an den Arbeitsmarkt gebundenen Bereich, wächst auch die Ungleichheit der Chancen der Abgänger der jeweiligen Systeme. UNICEF empfiehlt in seinem detaillierten Bericht zu Kosten und Nutzen des Bildungssektors den Ausbau beider Sektoren und die Förderung von Kindern aus einkommensschwachen Familien in den privaten Schulen.
Höhere Bildung
Die UNESCO stellt fest, dass sich der Sektor Höhere Bildung seit der Zerstörung von 2003 nicht ausreichend erholen konnte. So wurden 61 Universitäten beschädigt. Vornehmlich gelitten haben Einrichtungen wie Forschungslabore und Bibliotheken. Dieser Schaden überlagerte jahrzehntelanger mangelnder Investition und Erhaltung sowie einem Boykott, der ebenfalls den Wissenschaftssektor traf. Der Braindrain, der bereits in den Neunzigern einsetzte, wurde nach dem Fall des Regimes nicht angehalten. Aktuelle Projekte und Hilfsgelder fließen vor allem in die Verbesserung der Planung und Qualitätssicherung im Sektor in der Region Kurdistan.
Die Bundesregierung fördert die Rückkehr von irakischen Akademikern, die in Deutschland ansässig sind. Einen Überblick des Hochschulsystems des Iraks liefert der DAAD.
Die Erfolge der Strukturprogramme im Hochschulsektor dürften erst in Jahren sichtbar werden. In Kurdistan hingegen entwickelt sich nicht nur der staatliche Hochschulsektor zumindest sicherheitstechnisch unter besseren Vorzeichen. Auch private, ausländische Anbieter entdecken den blühenden Markt.
Einen Überblick zum Berufsbildungssytem des Iraks seit 2002 bietet das BQ-Portal.
Kultur und Identität
Die lange Kulturgeschichte des Irak wird auch heute noch durch die vielen Baudenkmäler und archäologischen Ausgrabungsstätten unterschiedlicher Epochen belegt. Orte, wie die Höhlenmalereien und Felsbildnisse an diversen Stellen des Zagros-Gebirges. Ehemals assyrische Städte wie Ninive oder Assur, die auf das gleichnamige Großreich hindeuten. Zu erwähnen sind, unter vielen anderen, die kurdischen Kastelle von Erbil und turkmenische Siedlungen um Kirkuk; die schiitischen Städte Nadschaf und Kerbala. Auch Bagdad verfügt über antike akademische Einrichtungen und Moscheen. Und nicht zuletzt das weitgehend rekonstruierte Babylon mit seiner berühmten Prozessionsstraße sowie die zahlreichen Ausgrabungsstätten der sumerischen Städte von Ur, Uruk und Lagash. Schließlich Basra und die umliegenden Marsch-Landschaften, in denen quasi die systematische Wasserbewirtschaftung erfunden wurde. Sie alle lassen eine uralte Kulturgeschichte greifbar werden.
Der Irak kann sich mit 5 Weltkulturerbe-Merkmalen brüsten. Die Definition der kulturellen Identität des Iraks ist eines der wichtigsten Streitthemen der aktuellen Politik. Nachdem das Baath- Regime eine Bindung an die Arabische Welt verordnete, beherrschen im Moment stark zentrifugale Kräfte die Debatte. Die konstitutionell verankerte Debaathifizierung, die Bildung von konfessionellen Milizen und der Kampf mit dem sogenannten Islamischen Staat sind sowohl Symptome als auch Resultat dieses Kampfes. Mit großer Mehrheit beschlossen die Kurden 2017, sie möchten ein unabhängiger Staat werden. Doch nicht nur Bagdad stämmte sich dagegen. Ohne die Unterstützung der Alliierten und der Nachbarstaaten hätte der künftige Staat keine Chance gehabt. So blieb es vorerst beim Traum von Unabhängigkeit. Die Kurzfilme des Kurdischen Filmfestivals in London ist aufgrund der Corona-Krise online verfügbar und geben einen interessanten Einblick in kurdische Kultur und Milieus.
Auch südliche Provinzen kündigen immer wieder an, sich selbstständig machen zu wollen. Meist dienen solche Drohungen verhandlungstaktischen Zielen. Zusammen mit den jüngsten Protesten in Basra erheben sich Stimmen, die die Durchführung des seit 2015 beantragten Unabhängigkeits-Referendums im Süden fordern, doch in Bagdad rührt sich nichts.
Religion
Der Islam macht mit 97% der Bevölkerung die am weitesten verbreitete Religion im Irak aus. Unter den Muslimen bilden die Schiiten die deutliche Mehrheit mit etwa 60-65%. Die zweitgrößte Konfession der Sunniten lebt mehrheitlich im Nordosten, im Westen und in der Zentralregion des Iraks. Die Kurden in der autonomen Zone bekennen sich überwiegend als Sunniten. Aber es gibt unter ihnen auch neuzeitliche Zoroastrier und Jesiden. Die meisten Kurden Bagdads fühlen sich sogar einem schiitischen Religionszweig verbunden: dem des Feili-Schiitentums. Die Schiiten besiedeln hauptsächlich einige Stadtteile Bagdads sowie den Süden des Landes. Die zentral gelegenen Städte Nadschaf und Kerbala gehören zu den heiligen Stätten im schiitischen Glauben.
Der Anteil christlicher Religionsgemeinschaften lag unmittelbar nach dem Sturz Saddams noch bei 3%. Darunter fielen syrisch-orthodoxe, apostolische und assyro-chaldäische Gemeinden. Heutzutage dürfte dieser Prozentsatz erheblich geringer ausfallen, denn gut die Hälfte aller Christen hat den Irak während der vergangenen 10 Jahre verlassen.
Dieser Prozess hat sich seit dem Eindringen der IS- Kämpfer und ihrer Übernahme der Stadt Mossul weiter verschärft. So fliehen jetzt viele syrisch- orthodoxe Christen, die vor 10 Jahen noch etwa 44.000 Gemeindemitglieder umfassten. In ihrem Siedlungsgebiet, in und um die Stadt Karakosch herum, leben aktuell schätzungsweise nur noch 1000 Religionsangehörige. Daneben gibt es noch religiöse Minderheiten wie die Schabak, die fast ausnahmslos im Norden und um Mossul herum leben; einige wenige auch noch in Bagdad. Mandäer siedeln im Südwesten des Iraks. Fast alle jüdischen Familien haben den Irak bereits Mitte der 50er Jahre verlassen.
Der Religion spielt seit Jahrzehnten in den politischen Debatten, bei der gesellschaftlichen Aushandlung von Freiheiten und Grenzen und bei der Identitätsdebatte des Iraks eine zunehmend große Rolle. Säkularismus schien nach dem Fall des Regimes zunächst nicht länger ein akzeptables Konzept. Bis zu den Wahlen im Sommer 2018 formten religiös geprägte Bündnisse die Regierungen. Die Wahlergebnisse brachten eine leichte Verschiebung zugunsten nationaler und säkularer Kräfte und könnten Veränderung in der vorherrschenden Rhetorik bedeuten. Im Dezember 2020 erkannte Bagdad Weihnachten als offiziellen Feiertag an, ein hochsymbolischer Akt für die Christen, die sich trotz Gefahren und Verdrängung im Irak halten konnten. Der Bericht «Shia Muslims commomorate Ashura in Iraq» (Al-Jazeera English; Engl.; Arabisch, Englisch-untertitelt; 2:23) gibt einen Einblick in schiitische Festivitäten und ihre Sicherung gegen terroristische Attacken.
Wir hatten einst die GIZ angefragt, die Länderinformationen vom Länderportal für unsere touristischen Webseiten zu nutzen. Dazu sollten wir auf die Urheber hinweisen. Nesrine Shibib hat die Länderinformation zum Irak gestaltet. Die Inhalte wurden bis 2020 im Auftrag der GIZ gepflegt.